Bonolino und die Lemminge

Ausgerechnet Alaska! Eine Gegend, wo sich Schneeschuhhase und Polarfuchs gute Nacht sagen. Nun, ich hatte mich schon einmal in eisige Regionen gewagt – genauer gesagt nach Grönland – und so konnte mich der Hilferuf eines Lemmings unmöglich kalt lassen.

Lemminge zählen zu den Wühlmäusen und da war es nicht weiter erstaunlich, dass MauMau mich begleiten wollte. Türülü war ebenfalls mit von der Partie. Der Anblick der Lemminge setzte uns indes in Erstaunen: Hunderte der kleinen Nager hatten sich auf einer Wiese versammelt. Auf ihren Rücken waren zahlreiche Bücher in den unterschiedlichsten Größen geschnallt. „Leseratten“, murmelte MauMau. „Lemming und die Schmöker“, krähte das Amselmännchen vergnügt.

„Ich heiße Lemmi“, stellte sich der Anführer der Meute vor. Türülü lachte. „Wir sind schon seit geraumer Zeit auf einer Leserreise. Jetzt tun uns die Füße weh und wir haben keine Lust mehr weiterzulaufen.“

„Hö? Und was erwartet ihr von mir? Soll ich euch durch die Gegend tragen?“, fragte ich verdattert. Lemmi setzte sich auf die Hinterbeine und zog sein Näschen kraus. „Unterwegs haben wir in den Flüssen Fischtreppen für Lachse gesehen. Ich dachte so an eine Rolltreppe – einen Telelift.“

„Die Fischtreppen gibt es aber nicht, weil die Fische etwa zu faul oder zu müde wären, sondern weil sie so größere Höhenunterschiede besser überwinden können. Schließlich müssen sie ja flussaufwärts schwimmen, um zu ihren Laichgründen zu gelangen“, mischte sich MauMau ein.

„Und wir sind nicht nur auf einer Leserreise, sondern außerdem auf der Suche nach einem neuen Winterlager. Ich sehe durchaus nicht ein, warum die Fische bevorzugt behandelt werden. Gleiches Recht für alle!“, beharrte Lemmi und die anderen Nager stimmten ihm piepsend zu. Uff! Hat man so etwas Verrücktes schon gehört? Rolltreppen für Lemminge … Wie sollte ich das denn bewerkstelligen?

„Wie sieht denn die Gegend aus, die ihr sucht?“, fragte Türülü. Ich zwinkerte ihm zu. Listiger kleiner Bursche!

„Na ja, eigentlich so wie hier“, antwortete Lemmi.

„Warum bleibt ihr dann nicht einfach da?“, fragte ich mit Unschuldsmiene. „Hier gibt es alles, was ihr braucht und ihr könnt eure kleinen Füße hochlegen.“

„Hmmm …“ Lemmi blickte blinzelnd in die Runde seiner Artgenossen. „Was meint ihr dazu?“

Bonolino liest den Lemmingen aus einem Märchenbuch vor

Schnell legte ich nach: „Und außerdem erzähle ich euch noch ein paar Märchen! Na, wie schaut’s aus?“

„Hierbleiben, hierbleiben!“, riefen die Lemminge und schnallten fröhlich piepsend die Bücher von ihren Rücken. In Windeseile und unter Lemmis kundiger Aufsicht gruben sich die Nager geräumige Wohnhöhlen, verstauten darin ihre Bücher, packten nach getaner Arbeit ihre mitgebrachten Butterbrote aus und blickten mich dann mit vollen Backen kauend erwartungsvoll an. Ich räusperte mich, schlug mein großes Märchenbuch auf und begann zu erzählen. Von „Schneemäuschen und Rosenkohl“, vom „Lemming mit den drei goldenen Haaren“ und vom „Wolf und den sieben Mäuslein“. Wie es sich für gute Gute-Nacht-Geschichten gehört, wurden die Lemminge alsbald müde. Sie gähnten zufrieden, rieben sich die Äuglein und huschten nach dem letzten Märchen zum Schlafen in ihre neuen Höhlen. Leise, um die Kleinen nicht zu stören, machten MauMau, Türülü und ich uns auf den Rückweg.

Bonolino, MauMau und Türülü spazieren in den Sonnenuntergang

Zuhause legte MauMau sich auf den warmen Ofen und gab die Grinsekatz. „Das war der beste Treppenwitz, den ich je gehört habe“, lachte sie.

„Stimmt“, zwitscherte Türülü. „Aber ich möchte jetzt auch noch ein paar Märchen hören!“ Und so machte ich es mir in meinem Ohrensessel bequem und begann mit dem Märchen vom König Amselbart. Als ich mit der gestiefelten Katze endete, war MauMau schon schnurrend eingeschlafen.


Weblinks: Wikipedia


Seite ausdrucken