Bonolino und der poröse Vampir

In diesem Jahr hatte der Herbst recht zeitig Einzug gehalten. Frost und Spinnweben überzogen die Wiesen und Felder, die Sonne verbarg ihr Gesicht allenthalben hinter einer dichten Wolkendecke, sodass die Welt in dunkeldüsteren Farben vor sich hindöste. Von goldenem Oktober keine Spur.

Hin und wieder öffnete der Himmel seine Schleusen. In diesen Momenten verbrachten meine Freunde und ich unsere Zeit gerne in der warmen Stube und lauschten dem Regen, der gegen die Fensterscheiben meines Gartenhäuschens prasselte. Plitsch, platsch, klatsch. Klopf, klopf … Hö? Klopf, klopf? Knusper, knusper, knäuschen? Wer mochte an diesem stürmischen, ungemütlichen Abend Einlass in mein Häuschen begehren? Hoffentlich keine Knusperhexe! Ich bekam eine Gänsehaut und bemühte mich, das Geräusch einfach zu ignorieren. Aber da war es schon wieder: ein leises Klopfen, wie von dürren Knochenfingern, die auf der Fensterscheibe ein gruseliges Lied intonierten. Huh!

„Nun schau schon nach, Bonolino.“ Knabber gähnte gelangweilt. „MauMau, Türülü und ich sind ja bei dir. Also herein, wenn’s kein Schneide- oder Reißzahn ist!“ Hmmmpf. Mulmig zumute, öffnete ich das Fenster.

„Ööööööh. Dürfen wir trotzdem reinkommen? Wir tun euch auch nichts.“ Vor meinem Fenster hatten sich ein paar Fledermäuse und ein Vampir in Stellung gebracht.

„Ööööööh. Ich bin mir nicht sicher“, antwortete ich zitternd. „Könnt ihr nicht draußen bleiben?“ Ich hatte einmal gelesen, dass man Vampire niemals ins Haus einladen dürfe. Ohne offizielle Genehmigung können sie angeblich nicht rein!

„Ööööööh. Das ist ziemlich bäh! hier draußen. Können wir nicht doch reinkommen? Wir beißen wirklich nicht!“

„Ööööööh. Okay …“ Das Flattergedöns drängte nach drinnen und hängte sich sofort kopfüber an die Deckenbalken und die Stubenlampe.

„Licht aus!“, krähte eines der Fledertiere.

„Licht an!“, protestierte der Vampir. „Deshalb sind wir ja hier! Ich heiße übrigens Victor.“

MauMau, Türülü, Knabber und ich blickten uns ratlos an. Was war denn hier los?

„Das wird dich jetzt wundern, Bonolino“, sagte Victor, „aber Lichtmangel stellt eine ernste Bedrohung für uns Vampire dar. Genauer gesagt, ein Mangel an Sonnenlicht.“

„Höööööö? Wie das?“

„Wir leiden alle an Osteoporose. Unsere Knochen werden mit der Zeit immer poröser und brüchiger.“

Ja, klar! Damit der Körper starke Knochen ausbilden kann, benötigt er viel Calcium. Damit Calcium aus dem Darm ins Blut aufgenommen werden kann und von dort in die Knochen gelangt, ist das Vitamin D erforderlich. Und Vitamin D kann von unserem Körper nur mit Hilfe des Sonnenlichtes hergestellt werden. Das war also der Casus knacksus! Sonnenlicht! Sonne und Vampire sind aber eigentlich unvereinbar. Heftige Sonnenbrandgefahr und so. Würden ihm mit der Zeit auch die Zähne ausfallen?

„Für dieses Problem gibt es vielleicht eine Lösung. Eine Ernährungsumstellung könnte dir womöglich helfen! Du benötigst ausreichend Calcium und Vitamin D“, meinte MauMau.

„Jetzt komm mir bloß nicht mit Fisch oder Fleisch! Ich bin Vegetarier!“, schnaubte der Vampir.

Ein Veggie-Vamperl! So etwas hatte ich ja noch nie gehört! Nun, da ich wusste, dass meine Freunde und ich nicht auf seiner Getränkekarte standen, war mir der blasse Bursche in seinem schwarz-roten Umhang und den beiden langen Reißzähnen doch gleich viel sympathischer.

Bonolino staunt über den vegetarischen Vampir

„Brokkoli, Grünkohl, Lauch, Spinat und Nüsse enthalten auch viel Calcium. Deshalb habe ich so schwere Knochen. Und ausreichend Bewegung ist auch wichtig“, kicherte das leichtgewichtige Eichhörnchen Knabber und sprang auf das Küchenregal mit den Tellern, dass es nur so schepperte. „Von den Nüssen kann ich dir aber leider nix abgeben – die brauche ich selbst, um durch den Winter zu kommen.“

„Ich glaube, ich habe noch ein paar Vorräte in meiner Speisekammer“, überlegte ich.

„Dann fehlt da aber noch das Vitamin D“, merkte Türülü an. „Ich hoffe, du magst Pfifferlinge und Champignons.“

„Hmmm. Keine Ahnung. Hab ich noch nie gegessen“, antwortete Victor.

„Das lässt sich leicht ändern.“ Ich klatschte motiviert in die Hände und griff nach Pfanne, Olivenöl, Kräutern und den Pilzen, die ich erst heute Nachmittag im Wald gesammelt hatte, und begann, ein spätes Abendmahl zu zaubern. „Da gehört jetzt eigentlich Knoblauch rein“, murmelte ich, während ich geschäftig in der Pfanne rührte.

„Kein Problem!“ Der Veggie-Vampir Victor grinste über das ganze Gesicht und zeigte dabei seine gefährlich langen Reißzähne. „Da ich an Heuschnupfen leide, habe ich mich im Frühjahr neben Pollen direkt auch gegen Knoblauch desensibilisieren lassen.“

MauMau beäugte den vermeintlichen Nicht-Blutsauger misstrauisch, bleckte ihrerseits die spitzen Zähne und flüsterte mir ins Ohr: „Falls der Bursche doch noch Ärger macht, kriegt er es mit mir zu tun!“

Zum Glück war das nicht notwendig. Victor erwies sich als friedfertiger Feinschmecker – ihm mundete das geruchsintensive Pilzgericht ausgezeichnet. Mit den Nüssen aus meiner Speisekammer machte er sich schließlich auf, um seine vampirische Verwandtschaft von den Vorzügen einer vegetarischen Ernährung zu überzeugen. Er beabsichtigte, seinen Lebensstil zu verändern, Schritt für Schritt seine Aktivitäten in den Tag zu verlagern und sich einer morgendlichen Jogging-Truppe anzuschließen. Monate später sollte ich ein Selfie mit leicht gebräuntem Teint von ihm erhalten. Als Nächstes stand eine FSME-Impfung auf seinem Plan: Eine Impfung gegen eine Krankheit, die von Zecken übertragen wird. Schon seltsam. Ich bin ziemlich gespannt, wie sich die beiden Blutsauger-Spezies auf Dauer miteinander arrangieren werden. Aber vielleicht wird es ja demnächst auch Veggie-Zecken geben. Wer weiß? Das Leben ist ein Abenteuer!

Bonolino bereitet für den Vampir eine Pilzpfanne zu


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