Bonolino und Blödingers Katze
Es war ein heißer Sommertag gewesen und ich hatte mich zu meiner Zerstreuung mit ein wenig Quantenphysik befasst. Wehe, Ihr lacht jetzt! Die Quantenphysik hat nichts mit Stinkefüßen zu tun, sondern ist eine hochspannende Naturwissenschaft, die sich mit Atomen und sogar noch kleineren Teilchen – den sogenannten Elementarteilchen – beschäftigt.
Aufgrund der abendlichen Hitze muss ich wohl an meinem Schreibtisch eingeschlummert sein und hatte einen wirklich absonderlichen Traum. In diesem Traum saßen MauMau und ich in meiner Küche und diskutierten über zeitlich und mengenmäßig angemessene Mahlzeiten.
„Stell dir folgendes Gedankenexperiment vor“, sagte MauMau. „Ich sitze hungrig in einer verschlossenen Kiste. In dieser Kiste gibt es außerdem einen Atomkern, der nach einiger Zeit wahrscheinlich zerfällt. Oder auch nicht.“
„Meinst du, dass du von einem einzigen zerfallenen Atomkern satt werden könntest?“, fragte ich ungläubig.
„Quatsch! Hör mir zu! Wenn dieser Atomkern zerfällt, löst er einen genialen Mechanismus aus, der eine Futterdose öffnet, die sich ebenfalls in der Kiste befindet. Das bedeutet, dass ich mich dann satt essen könnte. Theoretisch jedenfalls. Das Merkwürdige an der ganzen Sache ist nämlich, dass sich der Atomkern zeitgleich in zwei verschiedenen Zuständen befindet – einer sogenannten Superposition! Er ist zur gleichen Zeit zerfallen und nicht zerfallen.“
„Hö? Was soll das denn bedeuten?“
„Das bedeutet, dass ich gleichzeitig satt und hungrig bin!“
„Da komm‘ ich nicht mehr mit!“ Ich warf meine Stirn in blaue Falten und versuchte, MauMaus Erklärungen zu folgen.
„Durch die Gleichzeitigkeit der beiden Atomzustände – zerfallen und nicht zerfallen – wäre in der Folge die Futterdose sowohl geöffnet als auch geschlossen und ich somit gleichzeitig satt und hungrig! Die Zustände des Atomkerns und die meines Sättigungsgrades wären also miteinander verschränkt – das heißt, verbunden.“
„Wie soll das möglich sein?“
„Weiß ich selber nicht so genau. Aber wenn du dann die Kiste öffnest und nachschaust, ob ich hungrig bin oder nicht, wird diese Superposition des Atomkerns zerstört. Das bedeutet, die Gleichzeitigkeit der beiden Zustände endet, und du kannst sehen, ob du mir Futter geben musst oder ich nicht mehr ‚papp‘ sagen kann!“
„Allein durchs Hingucken stelle ich fest, ob du hungrig bist oder nicht? Pöh! Dafür brauche ich keine Quantenphysik!“
„Das stimmt fast“, antwortete MauMau. „Aber durch das Hingucken stellst du meinen Sättigungsgrad nicht bloß fest, sondern du legst ihn fest!“
„Das hört sich an, als hätte ich Superkräfte!“ Mit stolz geschwellter Brust lehnte ich mich auf meinem Küchenstuhl zurück.
„Hast du nicht. Das kann jeder, der nachschaut. Das ist einfach die verdrehte Welt der Quantenphysik!“, antwortete MauMau.
„Noch mal ‚hö?‘. Ich glaube nicht, dass ich das verstehe. Ich vermute, ich bin da einfach zu verschränkt.“
„Beschränkt.“
„Danke, sehr freundlich.“
„So habe ich das nicht gemeint, Bonolino. Ich glaube, das Ganze hat auch etwas mit der Meisenbergschen Unschärferelation zu tun.“
„Häää?“
„Ich hoffe, ich verwechsele da jetzt nichts, aber ich meine, dass der Quantenphysiker Werner Meisenberg Folgendes festgestellt hat: Je genauer man versucht, die Position einer Katze festzustellen, umso ungenauer lässt sich ihre Geschwindigkeit messen und umgekehrt! Entweder die Position oder die Geschwindigkeit bleibt bei dem Messvorgang unscharf.“
„Entschuldige bitte, MauMau, aber du hast entweder eine Meise oder einen Vogel! Oder beides! Verschränkt oder nicht. Wovon redest du da?“
„Na, stell dir vor, die Kiste, in der ich hungrig sitze, wird auf einmal geöffnet. Du kennst meine Position in der Kiste, aber du kannst nicht feststellen, mit welcher Geschwindigkeit ich zu meinem Futternapf in deiner Küche flitze, weil du dich auf meine Position konzentrierst. Umgekehrt könntest du wohl meine Geschwindigkeit messen, nicht aber, wo ich mich genau befinde. Quantenphysik, eben!“
„Das ist ja verrückt! Und außerdem bist du weder ein einzelnes Teilchen noch ein Atom. Du bestehst im Gegenteil aus ganz vielen Atomen, und deshalb kann das nicht funktionieren!“
„Da hast du Recht. So funktioniert Quantenphysik wahrscheinlich ja auch nur im Kleinen. Also im Mikrokosmos“, antwortete MauMau. „Und jetzt habe ich einen Makrohunger!“
Blödes Experiment. „Blödingers Katze“ – ha! Wer glaubt denn an so etwas? Ich würde MauMau niemals hungrig in eine Kiste stecken! Auch nicht satt. Schließlich ist sie ja meine Freundin!
Als ich aufwachte, sah ich, dass MauMau in einem Pappkarton schlief, aus dem ihr Kopf, die Pfoten und der Schwanz herausragten. Sie befand sich sowohl innerhalb als auch außerhalb des Kartons. MauMau liebt es, sich in Kartons zu verstecken und sie anschließend genüsslich zu zerlegen. Dann entdeckte ich mehrere Aufsätze zweier berühmter Quantenphysiker auf meinem Schreibtisch: unter anderem „Schrödingers Katze“ und die „Heisenbergsche Unschärferelation“. Das musste ich mir noch einmal genauer anschauen – in meinem Traum war doch einiges etwas unscharf und durcheinandergeraten ...