Bonolino und der Grüne Mann

Katzen sind sehr vielseitig – das wusste ich schon immer. Schließlich zählt MauMau zu meinen besten Freunden. Gleichwohl war mir nicht bekannt, dass sie sich gelegentlich auch als Hausmeister engagieren. So erhielt ich einen Hilferuf von William aus Schottland, seines Zeichens Haus-, Hof- und Kapellenkater der aus dem 15. Jahrhundert stammenden Rosslyn-Kapelle in der Nähe von Edinburgh.

Gemeinsam mit MauMau machte ich mich auf den Weg. William war fast genauso schwarz wie MauMau. Im Gegensatz zu ihr hatte er aber weiße Pfoten und einen weißen Brustfleck. Die beiden verstanden sich auf Anhieb – das heißt, sie stupsten sich zur Begrüßung gegenseitig mit der Nase und rieben die Köpfchen aneinander.

Dann erklärte uns William sein Problem: „Ich kümmere mich hier um das Notwendigste: versorge sowohl die armen Kirchenmäuse als auch die hungrigen Dompfaffen. Ich verscheuche freche Frettchen und halte das Unkraut im Zaum. Na ja, das mit dem Grünzeug gelingt mir in letzter Zeit nicht mehr so gut. Seltsame Sache. Seit ein paar Wochen wuchert in der Kapelle an den unmöglichsten Stellen u. a. Grinsekraut, Lachlauch und Kichererbsen. Wohlgemerkt IN der Kapelle!“

„Tatsächlich? Und wie kommen die dahin?“, fragte ich überrascht.

„Ein seltsamer, belaubter Mann springt dort herum und pflanzt, was das Zeug hält.“

„Ein belaubter Mann?“

„Beleibt und belaubt. Er ist kräftig und am ganzen Körper mit Blättern bedeckt. Es wächst ihm sogar Laub aus dem Mund und aus den Ohren!“ Huh! Das hörte sich aber unheimlich an!

„Ein Waldschrat!“, mutmaßte ich.

„Nein. Ein keltischer Naturgeist. Man nennt ihn den Grünen Mann“, antwortete William. „Er wurde auch schon in Irland, England, Frankreich und Deutschland gesichtet.“

„Tatsächlich? Und wie kann ich dir in dieser Angelegenheit helfen?“

„Er soll mit dem Unfug aufhören! Mit diesem Guerilla Gardening!“

„Hö? Was ist das denn?“

„Guerilla-Gärtnerei. Das ist so ähnlich wie Graffiti – nur mit Pflanzen. Im Prinzip keine schlechte Idee, weil die Welt mehr Blumen als Beton vertragen kann, aber doch nicht in einer uralten Kapelle! Alles hat seine Zeit und seinen Ort. Rede bitte mit ihm, auf mich hört er nicht!“ Die Drachen, Engel, ein Elefant wie auch alle übrigen Steingestalten der Rosslyn-Kapelle winkten mir von den Decken und Wänden aus lächelnd zu.

Plötzlich kam der Grüne Mann um die Ecke gesprungen. Überall, wo er mit den Füßen aufsetzte, sprossen mit einem Mal Pflanzen hervor. Auch seine Hände hinterließen auf den Gegenständen, die er berührte, eine Spur grünen Wildwuchses. Er verbreitete ein wachsendes Chaos. Dabei schien es nicht einmal absichtlich zu sein. Es passierte einfach. Fasziniert und gleichzeitig erschrocken beobachtete ich, wie sich Blätter und Ranken schlangengleich aus seinem Mund, seinen Ohren und sogar aus den Augen wanden. Ob das weh tat? Sein Körper war komplett mit raschelndem Laub bedeckt. Tatsächlich kam er mir fast wie ein sprechender Baum vor. Oder eine botanische Medusa.

„Tach auch, Bonolino!“ Der Grüne Mann streckte mir lachend seine blättrige Hand entgegen. Da ich aber lieber blau bleiben statt grün werden wollte, ging ich ängstlich einen Schritt zurück.

„Keine Bange. Auf Nilpferden wächst kein Gras. Zumindest habe ich das noch nicht beobachtet.“ Der Grüne Mann grinste mich breit an, und ich gab ihm vorsichtig die Hand.

„Was machst du denn hier?“, fragte ich ihn.

Bonolino und der Grüne Mann geben sich die Hand

„Ich bin Gärtner, Künstler und Freigeist. Der Robin Hood der Natur. Rächer der Entwurzelten. Oder so.“

„Aha. Und warum witzelst, wurstelst und wurzelst du in der Kapelle? Es gibt da doch viel bessere und geeignetere Orte. Wie wäre es mit etwas Forstarbeit im Sherwood Forest, hmm?“ Sherwood Forest heißt der Wald in England, in dem seinerzeit Robin Hood sein Grünwesen trieb – zur Tarnung soll er hauptsächlich blattfarbene Kleidung getragen haben.

„Ich soll einen englischen Wald bepflanzen?“ Der Grüne Mann schnaubte durch die Nase, dass die Blätter nur so durcheinanderwirbelten. „Du willst mich wohl veräppeln! Außerdem bin ich mit Schottland noch lange nicht durch.“ Da musste ich ihm leider Recht geben. Ehemals waldreiche Gebiete wurden im Laufe der Jahrhunderte komplett abgeholzt. Die Highlands reckten ihre Gebirgsnasen fast blank in die Luft.

„Jetzt, wo du es gerade sagst ... Warum forstet du nicht die baumlosen Gegenden Schottlands auf? Ist doch viel schöner, als sich mit alten Bauwerken rumzuärgern! Und wenn dich der Hafer sticht, findest du in den Städten bestimmt genügend graue, hässliche Fleckchen, die du begrünen kannst.“

Der Grüne Mann schaute mich einen Augenblick nachdenklich an, dann klatschte er begeistert in die Hände und rief: „Yep! Das ist eine großartige Idee, Bonolino! Ich mache mich sofort ans Werk!“ Dann verschwand er in einem blättrigen Wirbelsturm.

Kaum hatte sich der Grüne Mann aus dem Staub gemacht, verschwanden auch die Pflanzen aus der Kapelle. An ihrer Stelle ploppten steinerne Gesichter des Grünen Mannes auf und grinsten frech durch die Gegend. Über hundert dieser Gesichter kann man mittlerweile in der Rosslyn-Kapelle bestaunen.

William kicherte: „So ein dreister Kerl! Hoffentlich vertragen sich die grünen Grinsegesichter mit den anderen Steinfiguren der Kapelle. Aber ich werde schon ein Auge auf sie haben!“

MauMau und ich machten uns wieder auf den Heimweg. Zu Hause angekommen, setzen wir uns in meine Küche und tranken grünen Tee.

„Ehrlich gesagt finde ich das Guerilla-Gartending toll. Natur pur! Und viel schöner als die ganzen Graffiti-Schmierereien“, meinte MauMau nach einer Weile. Yep! Gerade wollte ich ihr antworten, als plötzlich auf meinem Küchentisch ein paar Blätter aus dem Holz wuchsen. Dann streckte ein Löwenzahn seinen gelben Kopf in die Höhe und lachte mich an: „Tach auch, Bonolino!“

Bonolino und MauMau beobachten einen Löwenzahn, der aus dem Küchentisch wächst


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