Bonolino und das Mikrokosmoos
Gääääähn! Ich kratzte mir verschlafen den Bauch. Sollte ich aufstehen und in der Küche nach etwas Essbarem suchen? Hunger hatte ich schon, aber ich war viel zu antriebsschwach, um mich aus meinem behaglichen Ohrensessel zu bequemen.
Gedankenverloren schaute ich den Stubenfliegen beim Krabbeln und Surren auf den wetterverschmutzten Fensterscheiben zu. Brumm. Brumm. Rastlose Rasselbande… Pffffft… Meine Winterträgheit hatte sich zu einer ansehnlichen Frühjahrsmüdigkeit ausgewachsen. So konnte das doch nicht weitergehen. Oder doch? Sollte ich meiner Faulheit etwa nachgeben? Nein! Es wurde Zeit, dass ich mich aufraffte! Entschlossen sprang ich in meinen Hausschuhen aus dem Sessel, öffnete die Tür meines Gartenhäuschens, breitete die Arme aus und atmete die frische Frühlingsluft ein. Ha! Schon fühlte ich mich viel munterer! Neugierig blickte ich umher – überall hatte die Natur zu wuchern begonnen. Grün, wohin das Auge reichte! Auch zwischen den Pflastersteinen, die den Weg zu meinem Gartenhäuschen bildeten. Kleine Moospolster hatten sich, von mir unbemerkt, eine neue Heimat in den Ritzen gesucht.
„Meine Herrschaften“, sprach ich zu den grünen Burschen, „so geht das aber nicht! Da könnt ihr nicht bleiben, sonst trete ich womöglich noch auf euch drauf!“ Das Moos hatte offenbar keine Lust zu antworten, also holte ich aus meinem Gewächshäuschen die Werkzeugkiste, um eine groß angelegte Umsiedlungsaktion durchzuführen. Gerade wollte ich den Fugenkratzer ansetzen, als ich dünne Stimmchen wispern hörte: „Stopp, Bonolino! Tu das nicht! Du zerstörst unser Zuhause!“
Hö? Wer hatte da gerade gesprochen? Verwundert drehte ich mich einmal um mich selbst, konnte aber niemanden entdecken.
„Hier unten! Wir sind Bärtierchen und wohnen im Moos!“ Ich kramte meine Spezial-Mikroskop-Lupe mit zigfacher Vergrößerung aus der Werkzeugkiste und tatsächlich! Da waren sie! Kleine an Bärchen erinnernde Tönnchen mit acht Beinchen, Krallen an den Füßchen und Mäulchen wie Staubsaugerdüsen. Wie putzig!
„Ich wollte das Moos doch nur umpflanzen, nicht umbringen“, antwortete ich gutmütig.
„Das will ich dir aber auch geraten haben“, brummelte ein Bärtierchen, das anscheinend der Anführer war.
„Ohne Moos nix los, was?“
„Nun ja, eigentlich gibt es uns so ziemlich überall. Hauptsache, es ist feucht genug. In 6.000 Meter Höhe im Himalaya, in 4.700 Meter Tiefe im Meer, in der Antarktis und auch in den Tropen am Äquator. Wir halten Temperaturen von minus 270 bis plus 150 Grad Celsius aus, im getrockneten Zustand können wir 120 Jahre in einem todesähnlichen Zustand verbringen und werden bei entsprechender Wässerung wieder lebendig. Wir sind sogar schon per Satellit ins Weltall gereist – luftleerer Raum oder hohe Strahlung können uns ebenfalls nichts anhaben. Aber im Moos ist es schöner als im All.“
„Huh! Ihr seid aber ein paar zähe kleine Kerlchen!“ Ich war mächtig beeindruckt!
„Der Wasserbär soll mal nicht so angeben wie eine Tüte voll Mücken – wir sind auch ziemlich hart im Nehmen“, ertönte ein weiteres Stimmchen und stellte sich und sein Volk als Rädertierchen vor. „Außer uns leben hier übrigens noch zahlreiche Einzeller, die dir ebenfalls sehr dankbar wären, wenn du das Moos nicht kaputt machen würdest.“ Das Moos war ja der reinste Mikrokosmos – eine Welt voller Kleinstlebewesen – quasi ein Mikrokosmoos! Wer hätte das gedacht?
„Nun, das hatte ich, wie gesagt, auch gar nicht vor.“ Und so siedelte ich das Moos samt Belegschaft in Pflanzenkübel um, stellte diese in den Schatten und sorgte für ausreichende Wasserzufuhr. Abends hörte ich die Racker zufrieden miteinander plaudern und kichern.
Mein Interesse an weiteren Expeditionen in die Welt der Winzlinge war nun geweckt. Im Internet las ich nach, wie man zu diesem Zweck einen Heuaufguss ansetzt. Während meines Experimentes schaute MauMau in meinem Gartenhäuschen vorbei.
„Was machst du da, Bonolino?“, fragte die kleine schwarze Katze.
„Ich gebe Glockentierchen, Sonnentierchen, Strahlentierchen, Heutierchen, Augentierchen, Hüpferlingen, Rädertierchen und sogar Bärtierchen eine neue Heimstatt und erweitere so meine Nachbarschaft!“, erklärte ich ihr stolz, denn ich hatte mich zwischenzeitlich über die zahlreichen Mikroorganismen (so nennt man die Kleinstlebewesen) informiert.
„Aha.“ MauMau schielte auf meine Filzlatschen. „Meinst du nicht, dass sie mit einem Nachbarn wie dir überfordert sind?“
„Wieso das denn?“
„Als Pantoffeltierchen bist du ziemlich groß geraten.“