Bonolino und der Troll
Mitten im Sommer hatte ich vom Weihnachtsmann eine Nachricht erhalten. Er arbeitet am Polarkreis in Finnland und wird dort Joulupukki genannt. In der Weihnachtszeit helfen ihm zahlreiche Wichtel beim Plätzchenbacken und in der Geschenkewerkstatt, in der übrigen Zeit des Jahres lebt er mit seinen Rentieren auf dem Ohrenberg Korvatunturi (so heißt er wegen seiner zwei tierohrenförmigen Gipfel).
Seine Wichtel haben dann Urlaub und verbringen ihre Ferien meist in Skandinavien. Im Gegenzug besuchen norwegische und schwedische Trolle ihre Verwandtschaft in Finnland und unterstützen diese und Joulupukki bei der Haltung seiner Rentiere. Das ist eine recht praktische Einrichtung, denn so treten sich Wichtel und Trolle im Wald nicht gegenseitig auf die Füße. Die Hilfe der Trolle sah wie folgt aus: Nachts hüteten sie die Rentiere, indem sie jedem Eindringling gruselige Grimassen schnitten und ihm drohten, ihn zu fressen. Kurz vor der Morgendämmerung umrundeten sie dann die Rentierherde, fassten sich bei den Händen, setzten sich und erstarrten mit den ersten Sonnenstrahlen zu Stein. Nur Cem nicht. Wenn seine Brüder Gem, Jem und Sem morgens die Augen schlossen und zusammen mit den anderen eine schnarchende aus- und einbruchsichere Trollmauer bildeten, blieb Cem als Einziger wach. Warum wusste keiner so genau, aber seine Trulla (so nennt man eine Troll-Ehefrau) vermutete, dass es daran lag, dass Cem lieber schlief, wenn andere arbeiteten, und umgekehrt. Aus Langeweile fing er dann an zu singen – so falsch und so laut, dass es zum Steinerweichen war. Das wiederum störte die versteinerten Trolle, denn wenn sie bei Sonnenuntergang aufwachten, konnte es sein, dass ihnen ein Ohr oder ein Auge verrutscht war, Augenbrauen auf den Knien wuchsen oder eine Zehe in einem Nasenloch steckte. Und es dauerte jedes Mal ziemlich lange, bis das ganze Durcheinander wieder behoben war. Sie schimpften dann wie die Rohrspatzen und krakeelten, dass er sich doch trollen solle. Aber Cem bekam von dem Ärger seiner Verwandtschaft selten etwas mit, weil er ja meist einschlief, sobald die anderen erwachten.
„Das ist ja drollig“, rutschte es mir heraus, als Joulupukki mir das Problem beschrieb.
„Haha – sehr lustig“, antwortete er, grinste dabei aber über das ganze weißbärtige Gesicht. „Rentier Rudi verdankt seine rote Nase ebenfalls Cems Plärrerei. Er ist vor Schreck gegen einen Baum gelaufen und hat sich den Rüssel gestoßen. Danach sah seine Nase aus wie eine rote Christbaumkugel. Naja, das gefiel ihm so gut, dass er seinen Weihnachtswunschzettel änderte ...“
„Und weil Rentier Rudi das ganze Jahr über artig war, hast du ihm einen dauerhaft roten Riechkolben beschert“, folgerte ich.
„Immerhin leistet die Leuchtnase in den Winternächten gute Dienste. Man sieht ja im Dunkeln nicht allzu viel, und ständig taucht unterwegs eine Baustelle auf. Ein Schlagloch in der Milchstraße hier, ein liegen gebliebener Komet da, eisglatte Flugbahnen und stundenlange Sternenstaus – manchmal schaffe ich es nur mit Ach und Krach, meine Geschenke zu verteilen! Es gibt halt keine anständigen Umleitungen oder Alternativrouten!“, beschwerte sich Joulupukki.
„Lass dir doch welche von Cem erstellen“, schlug ich vor.
Cem fand die Idee großartig. Mit Feuereifer stürzte er sich in die Arbeit, und weil er sich vor lauter Konzentration ständig in die Zunge biss, die er in den Mundwinkel geklemmt hatte, ließ er auch das Singen sein. Also machte ich mich wieder auf den Heimweg, um in meinem Tümpel bei strahlendem Sonnenschein zu entspannen.
Nach einigen Monaten, der Advent hatte gerade begonnen, flatterte mir Post von Joulupukki ins Haus: „Lieber Bonolino, deine Idee war ein voller Erfolg, wenngleich sie sich etwas verselbständigt hat. Cem fand es zu langweilig, einfach nur Routen aufzuzeichnen. Deshalb hat er einen Reisekatalog mit dem Titel Auf den Spuren des Weihnachtsmannes – mit dem Schlitten rund um den Globus gestaltet. Dummerweise ist der Katalog meinen Wichteln in die Hände gefallen, die nun zusammen mit den Trollen die Welt bereisen, und Cem singt im Weihnachtschor. Könnten du, MauMau, Knabber und Türülü nach Rovaniemi kommen und mir beim Plätzchenbacken helfen?“
Klar konnten wir das. Rovaniemi hieß Joulupukkis Dorf am Polarkreis. Und mit einem „Hohoho!“ flogen meine Freunde und ich zum Weihnachtsmann.