Bonolino und die Ungeheuer
Wenn die Wolken wütend weinen und der Donnergott es tüchtig krachen lässt, dann ziehe ich mich gerne mit einer Tasse Tee in mein Gartenhäuschen zurück, um in alten Schinken, Schwarten und Schmökern zu stöbern.
Heute war wieder so ein Tag. Draußen herrschte rabenschwarze Finsternis, Blitze zuckten wie Zitteraale über den Himmel und ich hatte mir aus meiner Bibliothek ein Bestiarium mit Drachen, Seeschlangen und Ungeheuern vorgenommen. Im Schein meiner Tranfunzel wirkten die mittelalterlichen Abbildungen erschreckend lebendig, sogar das Lesebändchen schien sich wie ein roter Lindwurm durch die Seiten zu winden. Ja, ich gebe es zu – ich fürchtete mich ein wenig. Da gab es Riesenkraken, die Segelschiffe enterten oder mit Pottwalen kämpften. Seeschlangen verschlangen sich gegenseitig und ein Wasserpferd mit hervorstehenden Eckzähnen stürmte über die Wellen. In einer aus dem Jahr 1544 stammenden Darstellung von Seeungeheuern aus der „Carta Marina“ trieben entsetzliche „Meerwunder und seltzame Thier“ ihr Unwesen. Mir stand der Angstschweiß auf der Stirn! Schnell blätterte ich weiter und fand mich Aug in Aug mit einem furchteinflößenden Untier.
Es handelte sich um eine Seeschlange, die durch einen langgezogenen, tiefen See zockelte. Irgendetwas schien sie erschreckt zu haben, denn plötzlich peitschte ihr Schwanz wild und wasserspritzend hin und her. Schnell kniff ich die Augen zusammen. Als ich sie wieder öffnete, saß ich staunend am Ufer des Sees. Wie kam ich hierher? Die Seeschlange stieß bei meinem Anblick einen markerschütternden Schrei aus: „Hiiiiiiiiilfe! Ein Ungeheuer!“ Wo? Gab es außer ihr noch weitere Untiere? Unsicher blickte ich mich um. „Welches Ungeheuer meinst du? Kann ich dir helfen?“, wagte ich zu fragen.
Der Seeschlange fiel die Kinnlade runter. „Duuuu!“, stieß sie schließlich hervor. „Du bist das Ungeheuer!“
Hö? Ich war verwirrt. Dann gab ich missmutig zur Antwort: „Ich bin kein Ungeheuer, sondern ein Nilpferd und heiße Bonolino!“ So! Der hatte ich es aber gezeigt! „Und wer bist du?“
„Nessie. So etwas wie dich habe ich hier noch nie gesehen!“
„Hi Nessie“, ertönte plötzlich eine weitere Stimme aus dem Wasser. „Was’n los?“ Die Stimme gehörte zu dem schaurigen Wasserpferd, dass ich in meinem Buch entdeckt hatte. Mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen!
„Hast du schon mal so ein Ungeheuer gesehen, Kelpie?“, fragte Nessie das Pferd mit den großen Zähnen.
„Ich bin ein Flusspferd!“, rief ich entrüstet, weil mir der Gedanke kam, dass die beiden den Nil gar nicht kannten.
„Also doch ein Seeungeheuer“, wisperte Nessie bang.
„Dann sind wir ja vielleicht verwandt!“, rief Kelpie. „Ich bin nämlich ein Wasserpferd, ein Each Uisge, wie man hierzulande sagt. Vielleicht kannst du uns dabei helfen, den Stöpsel zu finden.“
„Den Stöpsel?“ Mittlerweile hatte ich meine Furcht überwunden und wunderte mich nur noch.
„Klar! Der See hat ein Loch und wir beide suchen schon seit Ewigkeiten nach dem Stöpsel, um es zu stopfen“, antwortete Nessie. Da begriff ich endlich, wo ich gelandet war: am Ufer des Loch Ness in Schottland!
„Ähem … der See hat kein Loch. Soweit ich weiß, ist Loch einfach nur das schottisch-gälische Wort für See. Dieser große Tümpel hier ist also der See Ness.“
„Das glaube ich nicht!“, rief Nessie. Kelpie nickte bestätigend mit dem Kopf und gemeinsam tauchten die beiden in die Tiefe, um ihre Suche nach dem Stöpsel fortzusetzen. Erneut spritzte mir Wasser in die Augen und als ich sie öffnete, befand ich mich wieder in meinem Gartenhäuschen. Hatte ich etwa nur geträumt? Ein Regentropfen plumpste auf meine Nase. Hmmpfff. Loch Ness? Von wegen. Loch Dach!